Wann wird aus Angst eine Angststörung?

Wann wird aus Angst haben eine Angststörung? Wir klären über die Unterschiede und Behandlungsmöglichkeiten auf.

Apr 9, 2024

Die Natur der Angst: Warum Angst ein wichtiger Schutzmechanismus ist

Lesedauer: etwa 7 bis 10 Minuten

Angst ist eine der grundlegendsten Emotionen, die der Mensch kennt. Sie ist allgegenwärtig, begegnet uns in verschiedenen Formen und Kontexten, und begleitet uns oft durch den Alltag. Ob wir die Nachrichten schauen, uns in einer gefährlichen Situation wiederfinden oder uns um die Zukunft sorgen – Angst ist ein fester Bestandteil des Lebens. Doch obwohl Angst oft als unangenehm empfunden wird, ist sie eine der wertvollsten Schutzmechanismen der Natur. Ihre tiefen biologischen Wurzeln und ihre wichtige Funktion in der Evolution machen sie zu einem wesentlichen Überlebenswerkzeug, das uns in vielen Situationen das Leben rettet. Doch wann wird Angst problematisch? Und welche physiologischen Prozesse laufen ab, wenn wir Angst empfinden?

Die Funktion der Angst in der Evolution

Der Ursprung der Angst lässt sich weit in die Evolution des Menschen und seiner Vorfahren zurückverfolgen. Unsere Vorfahren waren in ständiger Gefahr, ob durch Raubtiere, Naturkatastrophen oder feindliche Stammesgruppen. In diesen lebensbedrohlichen Situationen war es von entscheidender Bedeutung, dass der Körper schnell reagierte.

Das sogenannte "Kampf-oder-Flucht"-Prinzip (auch "Fight or Flight") ist ein Überlebensmechanismus, der tief im Nervensystem des Menschen verankert ist. Wenn unsere Vorfahren auf ein Raubtier oder eine andere Bedrohung stießen, war es entscheidend, dass der Körper in der Lage war, sofort zu reagieren. Diese Reaktion wurde durch das sympathische Nervensystem aktiviert, das den Körper in einen Zustand höchster Alarmbereitschaft versetzt. In diesem Zustand werden Stresshormone wie Adrenalin und Cortisol ausgeschüttet, die dafür sorgen, dass der Herzschlag steigt, die Atmung schneller wird und die Muskeln sich anspannen – alles Vorbereitungen für eine schnelle Flucht oder einen Kampf.

Interessanterweise zeigt die Forschung, dass Angst nicht nur auf externe Bedrohungen beschränkt ist. Der Mensch ist in der Lage, auf eine Vielzahl von abstrakten und imaginären Bedrohungen mit Angst zu reagieren. Diese Fähigkeit, auch vor zukünftigen oder hypothetischen Gefahren Angst zu empfinden, hat eine wichtige adaptive Funktion. Sie ermöglicht es uns, Gefahren zu antizipieren und unser Verhalten entsprechend anzupassen, bevor eine tatsächliche Bedrohung eintritt. Dies erklärt, warum Menschen manchmal auch in scheinbar sicheren Situationen Angst empfinden – unser Gehirn ist darauf programmiert, potenzielle Gefahren frühzeitig zu erkennen, auch wenn diese nicht unmittelbar vorliegen.

Der Physiologische Prozess der Angst

Die physiologischen Prozesse, die während einer Angstsituation ablaufen, sind komplex und tief in der Funktionsweise des menschlichen Nervensystems verwurzelt. Der Hypothalamus, eine kleine Struktur im Gehirn, spielt eine zentrale Rolle in der Steuerung der Angstreaktionen. Sobald eine Bedrohung erkannt wird – sei es real oder eingebildet – sendet der Hypothalamus Signale an das sympathische Nervensystem, das eine Kaskade von Reaktionen in Gang setzt. Diese Reaktionen zielen darauf ab, den Körper auf Flucht oder Kampf vorzubereiten.

Eine der auffälligsten körperlichen Reaktionen ist der Anstieg der Herzfrequenz. Der Herzschlag beschleunigt sich, um den Blutfluss zu den Muskeln zu erhöhen und sie so mit mehr Sauerstoff zu versorgen. Dies ist entscheidend für die Vorbereitung auf körperliche Anstrengung, sei es im Kampf oder auf der Flucht. Gleichzeitig erweitert der Körper die Bronchien, um mehr Sauerstoff in die Lungen zu bringen und die Atmung zu beschleunigen.

Ein weiteres typisches Symptom ist das Zittern, das durch die Anspannung der Muskeln verursacht wird. Diese Anspannung bereitet die Muskeln darauf vor, in kürzester Zeit Höchstleistungen zu erbringen, was im Kontext eines Flucht- oder Kampfszenarios sinnvoll ist. Auch die Verdauung wird gedrosselt, da der Körper in einer Angstsituation alle verfügbaren Ressourcen auf das Überleben fokussiert. Das Verdauungssystem benötigt in solchen Momenten keine Energie, daher wird es kurzfristig heruntergefahren. Dies erklärt, warum Menschen in stressigen Situationen oft unter Magen-Darm-Problemen oder Übelkeit leiden.

Eine weitere, oft unangenehme Begleiterscheinung von Angst ist das Schwitzen. Das Schwitzen hilft dem Körper, sich abzukühlen, insbesondere in Erwartung körperlicher Anstrengungen. Während dies in einer natürlichen Umgebung überlebenswichtig ist, kann es in modernen sozialen Kontexten als peinlich empfunden werden.

Die Rolle der „Freeze“-Reaktion

Neben der bekannten "Kampf-oder-Flucht"-Reaktion gibt es auch die sogenannte "Freeze"-Reaktion. Diese tritt häufig auf, wenn eine Bedrohung als unüberwindbar erscheint oder wenn weder Kampf noch Flucht möglich sind. Die „Freeze“-Reaktion ist ebenfalls tief in der evolutionären Geschichte des Menschen verankert. Viele Tiere, einschließlich des Menschen, haben die Fähigkeit entwickelt, in extremen Stresssituationen zu erstarren. Dieses Erstarren dient dazu, durch Bewegungslosigkeit unauffällig zu bleiben oder im Extremfall vorzutäuschen, tot zu sein, um potenzielle Angreifer abzuschrecken.

Die „Freeze“-Reaktion ist besonders interessant, da sie eine Art letzte Verteidigungslinie darstellt. Wenn der Körper erkennt, dass weder Flucht noch Kampf eine realistische Option sind, kann das Erstarren den Körper in eine Art Schockzustand versetzen, in dem die physiologischen Reaktionen minimiert werden. Dies ist eine evolutionär angepasste Strategie, die insbesondere in extrem gefährlichen Situationen überlebenswichtig sein kann.

Moderne Bedrohungen und die Fehlanpassung der Angst

Während die Angst in der Vergangenheit hauptsächlich auf konkrete Bedrohungen wie Raubtiere oder Naturkatastrophen reagierte, hat sich das Bedrohungsumfeld in der modernen Welt erheblich verändert. Es gibt keine wilden Tiere mehr, die uns jagen, und die meisten Menschen leben in verhältnismäßig sicheren Umgebungen. Dennoch reagiert unser Gehirn weiterhin auf potenzielle Bedrohungen, auch wenn diese oft weniger real und unmittelbar sind.

Die moderne Gesellschaft ist geprägt von abstrakten und psychologischen Bedrohungen, die von finanziellen Sorgen über Arbeitsplatzunsicherheit bis hin zu sozialem Druck und globalen Krisen reichen. Unser Gehirn interpretiert viele dieser Bedrohungen auf ähnliche Weise wie konkrete physische Gefahren, was zu einer Überaktivierung des Angstsystems führen kann. Dies erklärt, warum viele Menschen in stressigen Situationen ähnliche körperliche Reaktionen zeigen wie unsere Vorfahren in lebensbedrohlichen Situationen.

In diesem Kontext kann Angst problematisch werden. Während die biologischen Mechanismen der Angst weiterhin auf das Überleben ausgerichtet sind, passen sie oft nicht mehr zu den modernen Bedrohungen, mit denen wir heute konfrontiert sind. Die Folge ist, dass Menschen zunehmend unter chronischer Angst oder übermäßigem Stress leiden, was zu einer Vielzahl von psychischen und körperlichen Gesundheitsproblemen führen kann.

Wann wird Angst pathologisch?

Angst wird dann problematisch, wenn sie unverhältnismäßig stark ist oder in Situationen auftritt, in denen keine reale Gefahr besteht. In diesen Fällen spricht man von einer Angststörung. Laut der Deutschen Gesellschaft für Angstforschung leiden etwa 15 % der deutschen Bevölkerung an einer Form von Angststörung, was zeigt, dass Angststörungen ein weit verbreitetes Phänomen sind.

Es gibt verschiedene Formen von Angststörungen, die sich in ihren Symptomen und Auslösern unterscheiden. Zu den häufigsten zählen:

  1. Spezifische Phobien: Hierbei handelt es sich um übertriebene und irrationale Ängste vor bestimmten Objekten oder Situationen, wie Spinnen (Arachnophobie), Höhen (Akrophobie) oder engen Räumen (Klaustrophobie). Menschen mit spezifischen Phobien vermeiden oft bestimmte Situationen oder Objekte, was ihr tägliches Leben erheblich einschränken kann.
  2. Soziale Angststörung: Menschen mit sozialer Angst haben eine übermäßige Angst davor, in sozialen oder leistungsbezogenen Situationen negativ bewertet oder beschämt zu werden. Dies führt oft dazu, dass sie soziale Interaktionen vermeiden oder extreme Nervosität in öffentlichen Situationen erleben.
  3. Generalisierte Angststörung (GAD): Diese Störung zeichnet sich durch ständige, übermäßige Sorgen aus, die sich auf eine Vielzahl von Alltagssituationen beziehen. Menschen mit GAD berichten oft, dass sie sich über Dinge Sorgen machen, die für andere trivial erscheinen, und sie finden es schwer, ihre Sorgen zu kontrollieren.
  4. Panikstörung: Panikstörungen sind durch wiederholte Panikattacken gekennzeichnet – plötzliche, intensive Angstanfälle, die oft ohne ersichtlichen Grund auftreten. Die Betroffenen haben das Gefühl, die Kontrolle zu verlieren, zu ersticken oder einen Herzinfarkt zu erleiden.
  5. Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS): PTBS tritt häufig nach einem traumatischen Ereignis auf und ist durch intensive Angst, Flashbacks und Albträume gekennzeichnet. Die Betroffenen erleben das traumatische Ereignis oft in ihren Gedanken oder Träumen erneut und können starke Angstreaktionen zeigen, wenn sie an das Ereignis erinnert werden.

Körperliche Reaktionen bei Angst: Was passiert im Körper?

Angst ist nicht nur ein emotionales Phänomen. Sie beeinflusst auch den Körper auf vielfältige Weise. Die biologischen Reaktionen auf Angst sind tief in unserem Nervensystem verankert und dienen dem Überleben. Lassen Sie uns die wichtigsten körperlichen Symptome bei Angst genauer betrachten:

Herzrasen und Zittern: Vorbereitung auf Kampf oder Flucht

Herzrasen ist eine der häufigsten Reaktionen auf Angst. Sobald unser Gehirn eine Bedrohung erkennt, signalisiert es dem Körper, dass er sich auf eine potenziell gefährliche Situation vorbereiten muss. Um die Muskeln optimal mit Sauerstoff zu versorgen, erhöht das Herz seine Schlagfrequenz, was das typische Herzklopfen auslöst. Das Zittern, das oft mit Angst einhergeht, ist ebenfalls auf die erhöhte Anspannung der Muskeln zurückzuführen, die bereit sind, entweder zu kämpfen oder zu fliehen.

Schwindel und Atembeschwerden: Folgen der Muskelanspannung

Die muskuläre Anspannung kann auch andere Symptome hervorrufen, wie z. B. Schwindel. Wenn sich die Muskeln im Hals- und Nackenbereich stark anspannen, kann dies das Gleichgewichtsorgan im Innenohr beeinflussen, was zu Schwindelgefühlen führt. Ebenso kann die erhöhte Atemfrequenz, die mit Angst einhergeht, zu Atembeschwerden oder einem Engegefühl in der Brust führen. Dies liegt daran, dass der Körper mehr Sauerstoff benötigt und die Bronchien erweitert, um eine schnellere und effizientere Atmung zu ermöglichen.

Verdauungsstörungen und Mundtrockenheit: Nebenwirkungen der Angst

Ein weiterer Effekt der Angst ist die Beeinträchtigung des Verdauungssystems. In Angstsituationen wird die Verdauung oft vorübergehend eingestellt, da der Körper Energie für andere Funktionen benötigt. Dies kann zu Verdauungsproblemen wie Bauchschmerzen, Übelkeit oder Verstopfung führen. Eine trockene Mundschleimhaut ist ebenfalls ein häufiges Symptom, da die Speichelproduktion in stressigen Situationen heruntergefahren wird.

Schwitzen: Der Körper kühlt sich ab

Schwitzen ist eine weitere typische Reaktion auf Angst. Es dient in erster Linie dazu, den Körper abzukühlen, um besser auf eine bevorstehende physische Anstrengung vorbereitet zu sein. Diese Reaktion, die in der Natur überlebenswichtig ist, kann jedoch in sozialen Situationen unangenehm sein, da starkes Schwitzen oft als peinlich empfunden wird.

Das Verständnis der körperlichen Reaktionen bei Angst

Es ist faszinierend zu beobachten, wie der Körper in Angstsituationen arbeitet, um uns zu schützen. Obwohl die Symptome unangenehm sind, spiegeln sie doch die natürliche Funktionsweise des menschlichen Organismus wider. Das Verständnis dieser Prozesse kann helfen, die eigenen Angstreaktionen besser einzuordnen und ihnen mit mehr Gelassenheit zu begegnen. Schließlich zeigt die körperliche Reaktion auf Angst, dass unser Körper nach wie vor auf potenzielle Bedrohungen vorbereitet ist – auch wenn diese Bedrohungen in unserer modernen Welt oft weniger lebensbedrohlich sind.

Behandlungsmöglichkeiten für Angststörungen

Angststörungen können in der Regel effektiv behandelt werden, wenn sie rechtzeitig erkannt werden. Eine der am besten erforschten und effektivsten Therapieansätze ist die kognitive Verhaltenstherapie (KVT). Bei dieser Therapieform lernen die Patienten, ihre negativen Gedankenmuster zu erkennen und durch realistischere und weniger bedrohliche Gedanken zu ersetzen. Dies hilft ihnen, besser mit ihren Ängsten umzugehen und ihre Reaktionen in stressigen Situationen zu kontrollieren.

Zusätzlich zur KVT können auch Entspannungstechniken wie Meditation, Atemübungen oder Yoga helfen, die körperlichen Symptome der Angst zu reduzieren. Diese Techniken zielen darauf ab, das Nervensystem zu beruhigen und den Körper in einen Zustand der Entspannung zu versetzen.

In schwereren Fällen kann auch der Einsatz von Medikamenten in Erwägung gezogen werden. Antidepressiva und Anxiolytika (Beruhigungsmittel) können helfen, die chemischen Ungleichgewichte im Gehirn zu korrigieren, die für die Angst verantwortlich sind. Allerdings sollten Medikamente immer in Kombination mit einer Therapie eingesetzt werden, um langfristige Ergebnisse zu erzielen.

Abschließende Gedanken

Angst ist ein komplexes Phänomen, das tief in unserer Natur verwurzelt ist. Sie ist sowohl ein lebenswichtiger Schutzmechanismus als auch eine Quelle von Leiden, wenn sie außer Kontrolle gerät. Das Verständnis der biologischen und psychologischen Grundlagen von Angst kann dazu beitragen, besser mit ihr umzugehen und, falls notwendig, professionelle Hilfe in Anspruch zu nehmen. Denken Sie daran: Angst will uns in erster Linie schützen – und wenn sie übermäßig wird, gibt es Wege, um sie zu bewältigen.

Wenn Sie sich fragen, wie man eine Angststörung behandeln kann, werfen Sie einen Blick auf das verlinkte Video, in dem verschiedene Behandlungsmöglichkeiten erläutert werden.

Sollten Sie das Gefühl haben, dass Angst Ihr tägliches Leben beeinträchtigt oder Sie unter einer Angststörung leiden, zögern Sie nicht, sich an unsere Psychotherapeutische Praxis Hofer von Lobenstein zu wenden. Unsere professionelle Unterstützung kann entscheidend sein, um Wege zu finden, mit Angst konstruktiv umzugehen und Ihre Lebensqualität zu verbessern. Wir sind für Sie da!

Quellen: 

Kircher, T. (2013). Pocket Guide Psychotherapie. Springer.

Deutsche Gesellschaft für Angstforschung (2020): Angststörungen – Prävalenz und Ursachen.

Schandry, R. (2009). Biologische Psychologie. Beltz.

Öhman, A., & Mineka, S. (2001). Fears, Phobias, and Preparedness: Toward an Evolved Module of Fear and Fear Learning. Psychological Review, 108(3), 483–522.

Margraf, J. (2017). Angststörungen: Klinische Psychologie und Psychotherapie. Springer.

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